Ich hatte einen Job, Freunde und vielleicht auch eine Zukunft. Doch dann fiel ich durch das gesellschaftliche Raster. Nie mehr sollte ich den Personennahverkehr verlassen. Pendler-Hikikomori wurde mein Fluch.
Es ist anderthalb Jahre her, da befreite mich eine gerissene Oberleitung zwischen Herne und dem Nirgendwo aus meinem Albtraum. »Es war, als hätte man uns aus einer Geiselnahme befreit«, berichten Leidensgenossen, die das Geschehen miterlebten mussten. Meine Mutter versuchte mich mindestens vier Geburtstage hintereinander via Smartphone zu erreichen, doch keine Chance. Mein Akku war schon viel zu lange zur Neige gegangen. Ohnehin ist das Leben sprichwörtlich an mir vorbeigezogen.
Neben mehreren Jahreswechseln verpasste ich eine Bundestagswahl, den Siegeszug von Fidget Spinnern und die Auflösung meiner Wohnung. Gebraucht habe ich meine Bleibe eh nicht, denn ich lebte in den letzten Jahren in einem Regional-Express. Mein Problem hatte gar einen Namen: Hikikomori. Das ist japanisch und bedeutet so viel wie »sich wegschließen«. Meine Form von Hikikomori war die Spezialfassung für Pendler.
Im Nachhinein bin ich dankbar für die Bezeichnung. So war es einfach, mein Problem in Worte zu fassen. Ohnehin war ich überrascht, wie ich dutzende Leidensgenossen, die auch mit mir im Abteil gefangen waren, im Stuhlkreis der anonymen Pendler wiedertraf. Hikikomori war unser Fluch und bestimmte seit jeher unser Dasein. »Du verlierst irgendwann den Bezug zur Realität«, sagt Frau Lederer, die meist nur wenige Sitze entfernt mit mir reiste. »Es gab mir ein Gefühl von Sicherheit. Und obwohl ich es als nicht normal empfand, konnte ich es nicht ändern«.
Wir sind nur wenige von zig Millionen Pendlern, die tagtäglich mit dem öffentlichen Nahverkehr reisen. Meist sind es mehrere Jahre unseres Lebens, die wir mit Warten und Hoffen verbringen. Selbst bei Sonnenschein schliefen wir, starrten auf unsere Mitbringsel und stellten uns sogar zeitweise tot. Das Problem Hikikomori für Pendler wird immer präsenter, umgerechnet 59,4 Prozent aller Beschäftigten müssen pendeln, wie der Focus schreibt.
An Lösungen gegen das Problem wird angeblich gearbeitet. Noch sind die Erkenntnisse bzw. ist der Forschungsstand noch zu gering, um die Auswirkungen des Lebensentzug zwischen Haltestellen zu beurteilen. Leider ist es oft so, dass Betroffene es schwerer haben überhaupt Fuß zu fassen, je länger sie in Zügen oder Straßenbahnen verweilen. Manche Forscher schlagen in ihrer Verzweiflung vor, die Familie und engsten Freunde miteinzubeziehen. Wie soll das funktionieren? Familienfeiern zwischen der Fahrkartenkontrolle?
Ich liebte meine Freiheit. Die öffentlichen Verkehrsmittel boten mir anfangs Möglichkeiten. Zumindest wirkte es so. Die U-Bahn gab mir die ganze Stadt, jederzeit erreichbar und erschwinglich. Nach einiger Zeit sah ich jedoch nur noch Galgen statt Haltegriffe. Das ist zum Glück Vergangenheit. Eine Streckensperrung aus »betrieblichen Gründen« schenkte mir meinen Alltag zurück. Seitdem habe ich keinen Zug mehr betreten. Stattdessen arbeite ich nun vom Home-Office aus, wo ich zum Glück die eigenen vier Wände nicht mehr verlassen muss. Endlich keine Ansagen, Junggesellenabschiede oder Klimaanlagenausfälle mehr. Niemand drängt mich, Platz für Ältere zu machen oder zwingt mir ein Gespräch auf. Nur manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich aus Gewohnheit mein Ticket 2000 zücke. In solchen Momenten grinse ich in mich hinein, schaue ich mich um und erfreue mich an der Leere.
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