Du sammelst ungelesene Bücher und nutzt die Stapel als Möbel? Gekonnt! Dann bist du möglicherweise ein Befürworter von Tsundoku. Tonnenweise Bücher kaufen – ohne sie je zu lesen.
Was haben »Der Fänger im Roggen«, »Schuld und Sühne« und »Ich bin dann mal weg« gemeinsam? Staub. Diese mehr oder weniger bekannten Bücher stapeln sich in zig Haushalten; oft noch frisch verpackt, ohne Eselsohren und somit ungelesen. Ein solcher Zustand hat einen Namen: Tsundoku. Wenn du am laufenden Band Bücher kaufst und stapelweise hortest, anstatt sie zu lesen.
Scheinbar eignen sich japanische Bezeichnung wunderbar für die Beschreibung von auffälligen Verhaltensweisen. Auf »Karaoke« und »Visual Kei« folgt Tsundoku. Dieser Begriff setzt sich aus tsumu (für Stapeln) und doku (zu Lesendes) zusammen.
Das Dilemma kommt mir nicht unbekannt vor, doch hatte ich dafür nie einen Namen. Was bin ich auf Flohbuchmärkten Amok gelaufen! Natürlich brauchte ich die gesamte Enzyklopädie der modernen Kunst in 22 Bänden. Darüber hinaus kann man nie genug Kafka in seinem Bücherregal stehen haben. Und dieses anschaulich gestaltete Kochbuch für Personen mit geringer Motivation konnte ich aus Prinzip (!) nicht liegen lassen. Nun liegen die Bücher hier herum. Gestapelt und ungelesen, aber zum Angeben reicht es.
Auch die Variante mit der Buchhandlung kommt mir bekannt vor. Der akute Wunsch, meiner notorisch schlechten Laune mit einer effektvollen Entleerung des Geldbeutel entgegenzuwirken. Außerdem benötigte ich unbedingt etwas für anstehende Zugfahrten, um mich von der Smartphone-Glotzer-Masse abzuheben. Da kommt so ein fetter Wälzer, der schon beim aus der Tasche ziehen »765 Seiten dick – und was kannst du?« sagt, gerade richtig. Im Buchladen angekommen, finde ich auf ausgestellten Wühltischen selbstredend immer genau DAS Buch, welches ich zwar brauchte, aber nach dem ich nie gesucht hatte. Nein, ich wusste nicht einmal, dass man so etwas drucken kann – ABER ICH MUSSTE ES HABEN.
Es sollte mich nachdenklich stimmen, dass mich sämtliche Verkäufer der Buchhandlung bereits mit Vornamen anreden. Aus Scham lasse ich mir manche Bücher einpacken. So weit ist es schon. Ich stapele ungelesene Bücher in meiner Wohnung, die zu alledem auch noch wie Geschenke aussehen.
So mancher wird sich in den voran gegangenen Zeilen wieder erkennen. Tsundoku ist weit verbreitet, obwohl der Wandel der Zeit dem Abhilfe schaffen müsste. Zum einen haben die Leute kaum noch Interesse an der Literatur. Niemanden muss man mehr erklären, dass die meisten Personen lieber stundenlang auf ihr Handy starren, denn auch nur ein Haiku zu lesen. Zum anderen hat sich der E-Reader enorm verbreitet, sodass alle Lieblingsbücher platzsparend in einem Gerät vereint werden können.
Was fehlt? Wahre Bücherratten werden es wissen. Ein echtes Buch übertrumpft dieses virtuelle Zeug um Längen. Der haptische Lesegenuss kann nur mit dem Geräusch und dem Gefühl einer umgeblätterten Seite erreicht werden. Dass die Bücher dann ungelesen in der Ecke landen, war ja nicht im Sinne des Erfinders.
Wahrscheinlich hat sich in unserem Bewusstsein die Vorstellung verfestigt, dass man Charakter und Persönlichkeit nicht erarbeitet, sondern kauft. Das klassische Motto »Kleider machen Leute« ist demzufolge in »Bücher schaffen Wissen« zu übertragen. Sollte man sich stapelweise Bücher angeeignet haben, ist das Image des klugen Geistes zum Großteil gesichert.
Tsundoku mit den Eskapaden eines Messies zu vergleichen, wäre nicht besonders fair. Wer jedoch mal einen Bücherstapler ins Schwitzen bringen möchte, kann sich ja mal ein bestimmtes Buch ausleihen. Sollte es der Sammler nicht direkt finden, liegt es gewiss am störenden Geschenkpapier.
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