Die Demotivationsfrage: Floskeln wie »Lebe Deinen Traum« sollen motivierend wirken, doch entpuppen sich langfristig als boshaftes Gelaber.
Eigentlich liebe ich meine Eltern. Sie schenkten mir meinen Führerschein, mein erstes Auto, mein Studium, die ersten 36 Mieten, mein zweites Auto, meine kleine Weltreise, erste Drogenversuche, den halben Inhalt meines Kleiderschranks und jede Menge Aufmerksamkeit. Andererseits könnte ich stundenlang auf sie einprügeln, weil sie mich nicht auf die hässliche Realität vorbereitet haben. Sie flüsterten mir immer »Lebe Deinen Traum« zu, solange ich denken kann. Es spielte keine Rolle, ob ich vollgekotzt und halbnackt viel zu spät nach Hause kam oder den schlechtesten Notendurchschnitt in der Geschichte der weiterführenden Schulen vorlegte. Stets bauten sie mich auf, indem sie sagten, dass ich alles schaffen kann – wenn ich nur fest daran glaube und auch was dafür tun würde.
Mittlerweile bin ich selbst in dem Alter, eigene Kinder mit Halbwahrheiten ruhig zu stellen. Allerdings habe ich mich dagegen entschieden, weil ich immer noch auf meinen ganz persönlichen Moment warte. Diesen bestimmten Moment, von dem ich rückblickend während eines Sektfrühstücks im Kreis meiner Freunde behaupte, dass ich angekommen sei. Meine Eltern bereiteten mich schließlich mein gesamtes Leben auf mein herausragendes Leben vor, förderten und forderten mich von Beginn an. Und nun? Ich arbeite in einem heruntergekommenen Büro in einem unsympathischen Viertel einer vollgestopften Großstadt. Teilzeit. Ein Auto oder gar Urlaub kann ich mir schon lange nicht mehr leisten. Die Miete kratze ich gerade eben so zusammen, wenn ich bei Leitungswasser bleibe und auf Bio-Waren verzichte. Ich führe kein Leben einer Prinzessin. Mein Traum ist somit in unerreichbare Ferne gerückt. Haben meine Eltern also im Grunde nur Lügen erzählt, um mich ruhig zu stellen? Verbales Ritalin? Dass ich ein Leben ohne Steuererklärungen, TÜV, GEZ, Krankheiten, Ex-Freunden und Selbstzweifel leben werde? Ich habe nichts geschafft – dabei habe ich doch alles dafür getan, um am Ende den Hauptpreis abzusahnen. Alles nur bla bla? – Nele K. aus Leipzig
Ja. Obwohl, eine Differenzierung wäre klug. Natürlich wollten Ihre Eltern nicht, dass Sie kurz vor Ihrer Midlife-Crisis ordentlich scheitern. Sie wussten es einfach besser. Warum soll man den Nachwuchs mit alltäglichen Problemen belasten, wenn der bereits Sorgen wie erste Pickel hat? Außerdem sind Sie mit Ihrer Empfindung nicht alleine. Viele Vertreter der Generation Y sowie die geringfügig Älteren erleben nun dieses Trauma, dass man unter Umständen doch nicht all das erreichte oder erreichen wird, was der große Masterplan versprach. Möglicherweise ist das auch der Grund, warum so viele wöchentlich ihren Therapeuten aufsuchen, um von ihren Burnout zu berichten, denn schließlich macht das echte Leben selten Spaß.
Sehen Sie die Vorteile. Zumindest bereichern Sie die Wirtschaft. Sie kaufen zig Bücher, die ihr Leben verbessern und/oder entrümpeln sollen und geben sich unzähligen Wellness-Angeboten hin, um endlich mal abschalten zu können. All das nur, um Ihre Aussichtslosigkeit für einige Momente ausblenden zu können und voll und ganz im Konsum aufzublühen.
Möglicherweise macht sich bei Ihnen auch nur der Frust breit, weil ihr Sponsor weggefallen ist und Sie selbst für Ihr Glück sorgen müssen. Das dies kein leichtes Unterfangen darstellt, davor hätte man Sie – zugegeben – warnen können. Aber müssen? Nein.
Drum steht es Ihnen frei im Jammertal zu verweilen und die süßen Früchte des Selbstmitleids zu verzehren oder das Handtuch zu werfen, um die nachfolgende Generation auf das Spielfeld zu lassen. Wehren Sie sich nicht weiter unnötig gegen die Mutterrolle, denn Sie ähneln Ihrer lieben Frau Mama gewiss bereits mehr, als Ihnen lieb ist. Dann können Sie Ihren Sprösslingen auch Gemeinheiten wie »Jede Herausforderung macht Dich nur stärker« zumuten und beobachten, wie Sie astreine Narzissten heranzüchten. Und siehe da, das wäre möglicherweise Ihr sehnlichst herbei gesehnter Moment.
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