Gesundheit

Spontane Genese im Wartezimmer

Morgens konntest du kaum noch einen klaren Gedanken fassen doch im Wartezimmer scheint alles wieder okay? Über spontane Genesungen kurz vor dem Arztbesuch.

Es war wie im Film. Ich schloss meine Augen und mein Leben wurde im Zeitraffer abgespult. Die zuvor getätigte Googlediagnose war ebenfalls eindeutig: ich muss sterben. Einige Spötter hätten mir Hysterie vorgeworfen, doch meine tropfende Nase und meine verstopften Ohren konnten nur das Schlimmste bedeuten. Eine gnadenlose Grippe hatte mich fest im Griff. Dämliche Kommentare wie »Ist eh nur eine Männergrippe, du Lappen« wollte (und konnte ich auch kaum!) hören. Die letzte Stunde hatte geschlagen.

Für meinen Abschied wählte ich das Wartezimmer meines Arztes. Auf dem beschwerlichen Weg zu seiner Praxis verabschiedete ich mich von all den Geschenken unserer Mutter Natur. Lebe wohl, Birke. Adieu, meine liebe Großstadttaube. Hau rein, miefender Gullydeckel. Alle paar Meter hatte ich das Gefühl ohnmächtig zu werden, da ich brutal niesen musste. Es war kein leichter Gang. Aber ich schleppte mich zur Anmeldung und bat die Arzthelferin, mir direkt eine Trage bereitzustellen – für den Fall der Fälle.

Ein Wartezimmer voller Scham

Das Wartezimmer war gut gefüllt. Leidensgenossen rotzten in ihre Taschentücher, während ich mein Testament in meine Cloud speicherte. Gerne hätte ich paar versöhnliche Worte an all jene gesandt, denen ich je Kummer und Ärger bereitet habe. Leider reichte es nur für einen Whatsapp-Status: »Die letzte Stunde hat geschlagen. Trauert nicht um mich. Mein Netflix-Passwort vermache ich meiner Freundin und sorry für das Gespamme«. Nach dem Absenden verspürte ich eine unerwartete Erleichterung. Die unsichtbare Taucherglocke schien zu verschwinden; ich konnte gar durch das linke Nasenloch atmen. Irritiert machte ich ein Selfie, um meinen Gesamtzustand zu überprüfen. Was war los? Meine zuvor vertränten roten Augen erschienen normal und meine wund gescheuerte Nase wirkte nur noch halb so bedrohlich.

Unmöglich. Zeigen meine Leidensgenossen und Genossinnen im Wartezimmer auch deutliche Fortschritte bei ihrer Genesung? So geht das nicht. Aufgrund meines ernsten Zustandes werde ich bald aufgerufen. Ich kann mich doch nicht halbkrank oder gar gesund beim Arzt vorstellen! Der lacht mich aus oder wirft mir gar die Vortäuschung falscher Tatsachen vor. Ich höre es schon: »Was fällt Ihnen ein? Draußen muss ein Blinddarm entfernt werden und stehlen mir die Zeit? Sie sind kerngesund«. Peinlich. Um das zu umgehen, rief ich einer vorbei rasenden Krankenpflegerin zu: »Hallo? Ich muss ganz dringend zum Doktor! Es wird mir bereits schwarz vor Augen«. Keine Antwort, nur ein genervtes Schnaufen.

Bis der Arzt kommt

Die Ereignisse der folgenden 30 Minuten sind mir ein wenig peinlich. Da ich eine fortlaufende Besserung meines Allgemeinzustandes verspürte (ernsthaft, meine Laune war viel zu gut, ich zog sogar die Schuhe aus und sang ein paar Trinklieder) überlegte ich, wie ich mir eine Berechtigung für das Wartezimmer verschaffen könnte. Schnell krank, aber wie? Auch den anderen mehr oder weniger Erkrankten ging es mit der Zeit deutlich besser, sodass wir ins Gespräch kamen. Neben unserer Leidensgeschichte teilten wir unsere Ängste vor einer bodenlosen Blamage und kamen zu dem Punkt, dass wir eine synchronisierte Gruppen-Ohnmacht schauspielern müssen, um unserem Dasein einen Sinn zu geben.

Auf drei! Eins, zwei, drei, plumps. Überzeugend warfen sich vier scheinbar gesunde Menschen inklusive mir auf den Teppichboden und warteten auf die Erlösung. Manche waren Spielverderber und starrten ignorant auf ihr Handy, anstatt unser Schauspiel zu unterstützen. Wir lagen gewiss 10 Minuten dort herum, bis man uns vor die Türe setzte. Wir hätten wohl zu viel Zeit und sollen uns erst wieder blicken lassen, wenn es ernst wird. Protestiert habe ich nicht. Stattdessen fühlte ich, wie sich langsam aber sicher mein linkes Nasenloch schloss.

Photo credit: weidegruen on Visual hunt / CC BY-SA

Oliver Peters

Notorischer Schwarzmaler und Weltmeister im »Böse gucken«. Geboren am Niederrhein, verdorben durch den Rest der Welt. Mag Pandas, verabscheut Pendeln. Kontakt: Facebook, Twitter oder Email.

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Veröffentlicht von
Oliver Peters
Schlagwörter: ArztKrankheiten

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