Freizeit

Echo Chamber am Beispiel einer Stulle erklärt

Was ist ein Echo Chamber? Und warum solltest du dein Mittagessen nicht zu lange auf dem Boden liegen lassen? Diese und weitere Fragen werden in diesem Gedankenexperiment geklärt. Oder auch nicht.

Ich habe meine Stulle fallen gelassen. Sagt man überhaupt noch Stulle? Ich habe das Gefühl, dass der Gebrauch solcher Wörter mich alt wirken lässt. Das macht mich zum Boomer. Vielleicht sollte ich lieber Marmeladenbrot sagen, obwohl nicht wirklich Marmelade auf dem Brot ist. Und jetzt habe ich das Wichtigste übersehen: den Countdown.

Drei, zwei, eins. Mittlerweile sind aber gewiss 10 Sekunden oder mehr vergangen. Es liegt immer noch da – umgedreht mit der angeblichen Marmeladenseite auf dem Schotterweg. Ich hingegen mache gerade Mittagspause im nahegelegenen Park. Es ist ein ruhiger Tag, sodass niemand mein Malheur bemerkt.

Wie bereits angesprochen: anstatt Marmelade habe ich einen tomatenreichen Brotaufstrich verwendet, der als „Bruschetta“ im Discounter verkauft wird. Bruh-schät-tah? Bru-skä-tah? Keine Ahnung. Ich entscheide mich für Bruh-schät-tah, da ich mich nicht blamieren will. Im Eiscafé sage ich auch nicht „Schtratziatella“.

Sag mir, was ich schon weiß

30 Sekunden. Die Regel kann ich wahrscheinlich vergessen. Mir wurde gesagt, dass bei fallengelassenen Essen die berühmte Drei-Sekunden-Regel gilt. Innerhalb der vorgegebenen drei Sekunden kann ich die Speise einfach aufheben und bedenkenlos konsumieren. Liegt es über einen längeren Zeitraum im Dreck, soll es unangenehme Folgen durch den Verzehr geben. Aber wie streng ist das Zeitlimit? Habe ich etwas Spielraum; sagen wir vier oder gar fünf Sekunden?

Ich könnte meinen Kollegen fragen, Rolf. Der hört nicht nur irgendwelche Wissenschafts-Podcasts, sondern interessiert sich für ebenfalls für schnelle Autos. Er weiß bestimmt mehr über diese Regel. Vielleicht weiß er sogar, wie ich Bruschetta aussprechen könnte. Ich rufe ihn an.

„Hallo Rolf. Kurze Frage: Es heißt Bruh-schät-tah, oder?“
„Was?“
„Du kennst doch dieses Tomatenbrot aus Italien, oder? Bruh-schät-tah.“
„Ja. Was ist damit?“
„Heißt es Bruh-schät-tah oder Bru-skä-tah?“
„Ja.“

Wenn man immer zu Wort kommt

Ich mag Rolf. Egal, was für absurde Gedanken ich manchmal während unserer gemeinsamen Arbeitszeit habe („Hättest Du lieber lange Arme oder lieber lange Beine?“), er hört mir immer sehr geduldig zu und widerspricht mir nie.

„Noch eine Frage: Kennst du die Drei-Sekunden-Regel?“
„Ja klar. Wenn etwas Essbares auf den Boden fällt, hast Du drei Sekunden Zeit, um es aufzuheben und zu essen.“
„Genau, das ist die Regel. Hier liegt nun seit einigen Minuten mein Mittagessen auf dem Boden. Meinst du, das Zeitfenster ist überschritten?“
„Puuuh. Drei Sekunden sind vorbei.“
„Japp. Aber meinst Du, die Regel stimmt? Vielleicht ist es eh nur ein Hoax.“
„Kann sein!“

Meine Person, meine Bubble und ich

Ich entschließe mich, das Gespräch zu beenden und mich an meine bevorzugte Quelle für Informationen zu wenden: Das Internet. Die kollektive Weisheit der digitalen Gemeinschaft wird auf meine Frage nach der Drei-Sekunden-Regel mit Sicherheit die passende Antwort liefern. Es dauert nicht lange, bis die ersten Reaktionen auf mein Posting folgen, hauptsächlich von Personen, die meinen Profilen folgen. Ich nicke wohlwollend beim Lesen jeder einzelnen Reaktion.

„Also ich habe letztens eine Pizza KALT gegessen, lag unterm Sofa! Alles ok“
„Kommt drauf an, Suppe fände ich schwierig. Aber ich würde sagen: Go for it!“
„Wollte nur sagen: Bruh-schät-tah. Alles andere ist lost!“

21 Minuten. Als zusätzliche Unterstützung habe ich die Drei-Sekunden-Regel gegoogelt. Zum Glück werden unter den Ergebnissen meine liebsten Internetforen verlinkt, sodass ich mich ewig lange durch fremde Seiten klicken muss. Die mir angezeigten Debatten sprechen mir aus der Seele.

„Wie schnell muss ich überhaupt bis 3 zählen? Bin schlecht in Mathe lol“
„Ich habe meine Pommes extra auf den Boden geworfen, um das zu testen. Halbe Stunde, lebe noch.“
„OMG Haltbarkeitsdaten sind FAKE. Wach auf!“

Echo, Echo, Echo

Die dargestellten Inhalte geben mir das Gefühl, dass ich nicht nur die richtige Entscheidung getroffen habe, sondern vor allem auch die richtigen Fragen stelle. Die geführten Dialoge bestätigen mich. Im Grunde hätte ich mir die Fragen schenken können, oder? Ich hatte ja scheinbar die ganze Zeit recht. Natürlich kann ich die Stulle noch essen. Ist doch egal, ob sie 20 oder 30 Minuten im Dreck liegt.

Ich beuge mich vor, um nach dem Bruschetta zu greifen. Eine zufällig vorbeilaufende Passantin faucht mich an: „Bah, Sie wollen das doch nicht wirklich essen, oder?“

„Nein, natürlich nicht“ murmele ich leise und lehne mich wieder zurück. Es fühlt sich an wie damals. Als ich Schtratziatella bestellte.

Oliver Peters

Notorischer Schwarzmaler und Weltmeister im »Böse gucken«. Geboren am Niederrhein, verdorben durch den Rest der Welt. Mag Pandas, verabscheut Pendeln. Kontakt: Facebook, Twitter oder Email.

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Veröffentlicht von
Oliver Peters

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