Wie man flüchtet. Sei es nach vorn oder zurück – oder gar mit einem Hechtsprung ins schützende Gebüsch. Flüchten will gelernt sein.
Vor ein paar Tagen erhielt ich eine Postkarte. Es war kein Absender vermerkt und als Motiv war der Stadtpark von Wanne-Eickel zu sehen. Der Text auf der Rückseite war eindeutig. Jemand hatte „Flüchte, ehe es zu spät ist!“ in hastigen Buchstaben drauf geschmiert. Meine Adresse hingegen fein säuberlich daneben.
Ich hatte keine Ahnung, was man mir damit sagen wollte.
Das muss ein dummer Scherz sein, dachte ich mir und legte die Karte beiseite, um sie zu vergessen. Der Alltag half dabei, obwohl ich anfangs natürlich überlegte, wer dahinter stecken könnte. Und vor allem … Warum? Ein paar Nachfragen im Umfeld brachten keine zufriedenstellende Antwort. Keiner wollte mir geschrieben haben. Keiner war je in Wanne-Eickel. Warum auch?
Übertriebene Glückskekse
Vor zwei Wochen fischte ich erneut eine Karte in meinem Briefkasten. Das Motiv war ein anderes, jedoch der Text auf der Rückseite unverändert. „Flüchte, ehe es zu spät ist!“
Dieses Mal war der Heldenplatz in Budapest als Motiv zu sehen. Das wurde immer verworrener. Natürlich kannte ich niemanden in Budapest, noch hatte ich irgendeinen Bezug zum Heldenplatz. Dieses Mal würde ich es nicht so einfach ignorieren können.
Diese Karten und vor allem die Aussage „Flüchte!“ begleiteten mich von da an. Aufmerksam verliefen meine Tage, um irgendwelche Hinweise auf den Ursprung der Karten ausfindig zu machen. Es wirkte leicht paranoid. Jeder stand unter Generalverdacht und auch die Aussage bekam eine übertriebene Tiefe. Wie ein Glückskeks, der zufällig den passenden Spruch zur Lebenssituation parat hatte.
Flüchte. Vielleicht sollte man das viel ernster nehmen. Ich ertappte mich bei solchen Gedanken. Es folgten weitere. Flüchte. Aber wohin? Wanne-Eickel? Dann wäre ich nicht mal weit gekommen, denn Wanne-Eickel ist recht zügig erreichbar.
Flucht – wovor eigentlich?
Heute bekam ich die dritte Karte. Derselbe Aufruf, ein anderes Motiv. Zu sehen war der goldene Pavillon in Kyoto. Natürlich war ich immer noch ahnungslos, im Grunde sogar noch verwirrter.
Und ich weiß nicht genau, ob es am drögen Morgen lag. Ich stand auf und vollzog die Morgenroutine mit Dusche, Müsli, Kaffee, hartgekochtes Ei, Tageszeitung, Facebook usw. Vielleicht lag es auch am Arbeitsalltag mit all den Wiederholungen und Handyunterbrechungen. Oder gar an der vorprogrammierten Einsamkeit, die nach Arbeit herrscht. In der Unterhaltungsmedien und virtuelle Sozialkontakte ein angebliches „Leben“ vortäuschen.
Jedenfalls meldete ich mich tags darauf krank und kaufte mir ein Zugticket nach Wanne-Eickel. Der Kreislauf war durchbrochen. Auch wenn ich nur einen Tag ausbrechen mag und mir Klischees wie „Der Weg ist das Ziel“ durch den Kopf wandern … das Erste, was ich mir in Wanne-Eickel besorgen werde, ist eine Postkarte.
Letzte Bearbeitung war am 17.08.2017