Die Demotivationsfrage: Muss ich nach der Nachrichtensendung eine Meinung bilden und muss ich diese gar äußern? Aber was ist, wenn ich keine Ahnung habe?
In Zeiten wie diesen traue ich mich kaum noch, den Fernseher einzuschalten oder mich gar in den sozialen Netzwerken einzuloggen. Es sind nicht nur die deprimierenden Nachrichten, sondern auch die Flut an diffusen Meinungen und Ideen, welche vor den Bildschirmen formuliert und verbreitet werden. Verstehen Sie, ich bin am Tagesgeschehen interessiert und fühle mich einfach wohler, wenn ich eine gewisse Ahnung davon habe, was derzeit die Medien und vor allem die Menschen beschäftigt. Doch ertappe ich mich selbst immer häufiger dabei, wie ich fassungslos wie ein Reh im Scheinwerferlicht auf die Meldungen blicke und einfach nicht mehr weiß, was ich davon halten soll. Schlimmer noch: ich fühle mich, als ob man mich zu einer Meinung drängt. Als ob jemand das Scheinwerferlicht auf mich wirft und mir ein Mikrofon in die Hand drückt, um auf Kommando meine Gedanken zu äußern, was ich denn von diesem oder jenem Thema halte. Der Nächste scharrt schon mit den Hufen, während ich mich gerade zu dem ersten Wort hinreißen lasse, welches ich meist direkt schon nach wenigen Augenblicken bereue. Doch ein Rückzug ist nahezu unmöglich; wer keine Meinung zu aktuellen Sachverhalten äußert, gilt nicht nur als dumm, sondern wird ausgegrenzt. Kommt es zu dieser unglücklichen Lage, dass ich mich zu einer Aussage hinreißen ließ, geht es meist nur darum mittels Argumentationen, die nicht selten auf wagen Halbwissen basieren, seinen wackeligen Standpunkt zu behaupten. Denn in einer Diskussion geht es ja nicht darum, den Teilnehmern ihre Meinung zu lassen, sondern sie zu überzeugen. Stimme ich nicht nach diversen Wortwechseln zu, lande ich auf der Liste der Leute, die man zu meiden hat. Dabei wollte ich dies gar nicht! Weder mitmischen noch mich zu Pauschalaussagen drängen lassen. Mir will es gar nicht in den Kopf, wie manche Leute ihre waghalsige Kommentare bei Facebook und Co. verbreiten und sich auch noch im Recht fühlen. Ist es wirklich alles so schwarz und weiß, wie man mir eintrichtern möchte? Jedenfalls frage ich mich, ob ich tatsächlich stets eine Meinung haben muss. Zum Klimawandel, zur Politik, zum Kaffee im Büro oder zu dem Kleid meiner Frau. Und sollte ich eine haben, wem ist sie hilfreich – abgesehen von mir? Wie soll ich mich im Alltag verhalten, wenn man mir demnächst die unsichtbare Flüstertüte in die Hand drückt? – Jonas B. aus Castrop-Rauxel
Erinnern Sie sich noch an jene Zeiten, in denen man noch aufwändig Leserbriefe schreiben musste, damit man in den Medien überhaupt eine Lesermeinung mitbekam? Herrlich war das! Frei nach dem Motto »Viele Köche verderben den Brei« werden aus Diskussionen schnell absurde Klick-Festivals, die das Schlechteste der Bürger ans Tageslicht bringen – gerade in der Anonymität des Internets. Während bei Streitgesprächen, die offline stattfinden, immer noch Lautstärke oder bestenfalls Argumentation die Gesprächsführung bestimmen, geht es online nur darum, wer am schnellsten und am meisten tippt. Sollten einen die Argumente ausgehen, wird in die Trickschublade gegriffen und beispielsweise auf Schreibfehler und Recherchefehler herumgepocht, damit man am Ende das letzte Wort behält. Anstrengend! Da die meisten Nutzer sich bequem mit dem Teilen von kontroversem Inhalt mit provokativer Überschrift beschränken, kann man den Großteil wenigstens ignorieren.
Bleiben wir ein wenig in der Vergangenheit. Erinnern Sie sich noch, als Ihre Meinung zu Großteilen von der Tagesschau und ihrer abonnierten Zeitung geformt wurde? So wurde Ihr Hirnkasten entlastet und sie konnten morgens im Büro einfach das auswendig aufsagen, was Sie zuvor gelernt haben. Heutzutage ist es etwas schwieriger, da so viele Meinungen durch den Raum schwirren. Welche ist richtig? Welche gar Ihre? Keine Ahnung? Die bittere Wahrheit ist, dass Sie wahrscheinlich selten eine wirkliche eigene Meinung besaßen. Weder die sozialen Netzwerke und die Informationsgesellschaft ist daran schuld, dass Sie sich überfordert fühlen. Sie können sich einfach nicht mehr entscheiden im Wust des Gelabers.
Ich rate Ihnen dazu, von der Meinungsbildung so lange Abstand zu nehmen, bis sie sich zu 100 Prozent sicher sind, dass sie wissen, wovon Sie faseln. Das reduziert die Themenvielfalt auf ein Minimum, da Sie mit Sicherheit nicht auf jedem Thema Experte sind. Fangen Sie doch mal mit einer Thematik an, die auch angebracht wäre: mit Ihnen selbst. Kaum Recherchefehler, höchstens mal eine verdrehte Tatsache und siehe da – Sie wirken unverschämt kompetent. Und sollte man Ihnen mit tagesaktuellen Meinungen penetrant auf den Keks gehen, reichen Sie die unsichtbare Flüstertüte einfach weiter und warten, bis das Licht ausgeht. The show must go on.
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Letzte Bearbeitung war am 14.08.2017