Wurde es gestern wieder etwas später? Netflix zwingt uns mit unzähligen Serien und Filmen dazu, unseren Alltag hinsichtlich Serienstarts anzupassen. Dabei war es früher alles etwas übersichtlicher. Da gab es noch so spießige Dinge wie »Fernsehzeitungen«.
Vor kurzem gewann meine Neugier und ich startete einen Test-Monat Netflix. Es dauerte nicht lange, bis meine Wohnung zumüllte und die Nachbarn die Polizei riefen – es roch seltsam im Hausflur. Ohne es großartig zu bemerken war ich in den Fängen des Streaming-Anbieters gefangen und versackte hemmungslos vor dem Bildschirm. Stranger Things, Black Mirror und wie sie alle heißen mussten so schnell wie möglich durchgeglotzt werden. Meine Freundin steckte mich in eine Selbsthilfegruppe: anonyme Netflixer. Im Stuhlkreis konnten wir uns all die Widerlichkeiten beichten, die wir in Kauf nahmen. Mangelnde Hygiene, Insomnia und eine Plastikflasche voller Urin. Alles nur, damit wir nicht auf die nächste Folge verzichten mussten. Dabei war dem nicht immer so. Früher, als noch das normale Fernsehen über unsere Abendgestaltung herrschte, erschien alles etwas gesitteter. Die folgenden Punkte erinnern an die gute alte Zeit des Standby-Buttons. Das hier hast du alles dank Netflix verlernt:
Raum und Zeit war gestern
Eine Fernbedienung oder Fernsehzeitung nutzen. Auf dem Bild zu diesem Artikel sieht man dieses seltsame Relikt einer längst vergessenen Zeit: eine Fernbedienung. Etwas größer als ein Schokoriegel, mit bunten Tasten sowie Zahlen und Symbolen versehen. Diese wurde damals genutzt, um ein TV-Programm auszuwählen. Klingt komisch, ist aber so. Damals war es überfordernd und führte gar zu Beziehungsdramen, weil sich auf eine Sendung geeinigt werden musste – indem man zum Beispiel die »1« für den Tatort presste. Zuschauern wurde vor nicht allzu langer Zeit noch einiges abverlangt! Für Netflix-Anhänger klingt das Folgende gewiss noch absurder: früher blätterten die Konsumenten gar durch sogenannte Fernsehzeitungen, um zu erfahren, ob überhaupt was Interessantes läuft. Meist wurde aus dem überschaubaren Angebot das kleinste Übel (Kochsendungen, Dokus über Pinguine, Wiederholungen von Disney-Filmen) gewählt.
Ein gewisses Zeitgefühl. Netflixer wissen: ist die eine Folge gerade vorbei, beginnt in weniger als 20 Sekunden bereits die nächste. Besonders dreist verhalten sich die Macher des Streaming-Services, indem sie sogar die komplette Staffel auf einmal bereitstellen. Wartezeiten von bis zu einer Woche, wie früher aus dem TV bekannt, fallen komplett unter den Tisch. Es gibt nicht einmal Werbepausen, um das Gesehene zu verarbeiten. Das Durchglotzen von einer gesamten Serienstaffel hat mittlerweile sogar einen Namen: Binging. Völlig verwahrlost vergessen Netflix-Jünger Raum und Zeit, weil sie unbedingt wissen wollen, ob die neue Star Trek Serie doch endlich an Fahrt gewinnt.
Netflix kann durch die Nase gehen
Pinkelpausen einlegen. Der angesprochene Verlust des Zeitgefühls hat neben gestapelten Essensresten und konstanter Übermüdung noch einen weiteren unangenehmen Nebeneffekt: das Überstrapazieren der Blase. Zu gefesselt oder schlichtweg zu faul zum Wasserlassen verharren Serienjunkies vor dem Bildschirm und klemmen sich einen ab. Diejenigen, die sich selbst bereits aufgegeben haben, verzichten gar auf eine Hose und haben ein leeres Gefäß griffbereit. Örghs.
Kluge Sachen über die Macher erzählen. Als das Fernsehen noch ein überschaubares Angebot bereitstellte gab es am Tag nach einer quotenreichen Sendung jede Menge Diskussionsstoff. So fanden sich die Kollegen in der Mittagspause ein, um über die verrückten Wetten von Thomas Gottschalk zu plaudern oder wen sie alles aus dem Dschungelcamp gewählt haben. Gerne wurde auch im Freundeskreis über geschaute Filme geredet, allein schon aus dem Grund, um mit Fachwissen über Regisseure und Schauspieler zu glänzen. Durch Netflix, die Intros und Abspänne zum Überspringen anbieten, bleibt der Zuschauer darüber im Dunkeln, wer hinter dem Format steckt. Statt einem »Hat der nicht letztes Jahr den Oscar erhalten?« hört man nur noch ein »Muss ich noch schauen. Steht oben auf meiner Liste.«
Essen, schlafen und überhaupt alles, was normale Leute tun. Ab und zu eine Pause einzulegen ist nicht unbedingt im Sinne von Netflix. Dabei kann eine Pause, sei es für Nahrung, Schlaf oder gar Arbeit, für Serien- und Filmfreunde durchaus nützlich sein. So fanden Forscher heraus, dass bei einer Binging-Session das Gesehene deutlich eher vergessen wird. Gibt es jedoch Unterbrechungen (wie früher … einmal die Woche Lindenstraße), so bleibt die Handlung deutlich besser im Gedächtnis. Also stehe auf, mein lieber Serienjunkie. Nutze die Gunst der Stunde und klappe deinen Laptop zu. Öffne ein Fenster, atme tief ein. Iss anschließend ein leckeres Pausenbrot. Spüre, wie deine eingeschlafenen Beine wieder lebendig werden. Höre Deine Mailbox ab, denn du wirst bereits vermisst. Und um Gottes Willen, gehe endlich auf die Toilette!
Photo credit: keirstenmarie on Visual Hunt / CC BY
Letzte Bearbeitung war am 06.10.2020