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Sorry, aber ich hatte eine schwere Kindheit

Beitragsbild: Sorry, aber ich hatte eine schwere Kindheit

Eigenverantwortung ist lobenswert, doch möchte dies nicht jedem gelingen. Was geht in einem Menschen vor, der sich selbst Opfer definiert? Hier ist ein fiktives Statement einer Person, welche Verantwortung so weit wie nur möglich von sich schiebt.

Ich kann nichts dafür. Ehrlich. Es liegt gewiss an meiner schweren Kindheit und wahrscheinlich auch am Wetter. Schließlich bin ich am Ende auch nur ein Opfer der miserablen Umstände. Kein normal denkender Mensch wäre so dreist, mir Vorwürfe zu machen. Das wäre schlichtweg unverschämt oder sogar bösartig. Aber fangen wir vorne an. Ich wurde Ende der 70er geboren und konnte mich nicht gegen diese furchtbaren Geschmacklosigkeiten wehren. Sie waren einfach da, wahrscheinlich sogar lange vor meiner Geburt. Tapeten, Klamotten und vor allem meine Eltern. All diese Faktoren erschwerten es mir, meinen Weg zu finden. Wie soll man sich auch als Dreijähriger entfalten, wenn man bereits vor der ZDF-Hitparade ins Bett muss?

Zahlen und Christoph sind schuld – aus Prinzip

Im Laufe der Jahre wurde es nicht besser. In der Schule kam ich ebenfalls nicht gut zurecht, da ich an Hausaufgaben und meinem Mathelehrer verzweifelte. Er hatte mich auf dem Kieker und bat mich zu ungünstigen Momenten an die Tafel, um mich vor versammelter Mannschaft rund zu machen. Das nagte an meinem Selbstbewusstsein und so lernte ich Zahlen zu hassen. Diese Abneigung hat sich bis heute gehalten, wie man an meinen aktuellen Umgang mit Finanzen zweifelsfrei erkennen kann. Hätte er nicht ständig auf sinnentleerte Kurvendiskussionen bestanden, würde ich wahrscheinlich in jeder Mittagspause Sudoko-Rätsel lösen.

Generell mache ich meine Schulzeit für viele Mängel im Hier und Jetzt verantwortlich. Ich bin unsportlich, da mich mein Sportlehrer albern zu Lambada vor klatschenden Eltern »tanzen« (streng genommen war es eher schunkeln und stampfen) ließ. Bücher finde ich anstrengend, da ich ein Schuljahr mit Das Parfüm von Süßkind verbringen musste. Und die allerschlimmste Fehlannahme war über viele Jahre lang, dass man interessante Frauen entweder stundenlang anstarrt oder mit hastig gekritzelten Zetteln (»Willst du mit mir gehen?«) von sich überzeugen könnte. Keine Ahnung, wie mein Mitschüler Christoph es anstellte. Wäre er nicht gewesen, hätte sich vielleicht wenigstens die dicke Linda für mich begeistern können.

Prinzessinnen und Milfs

Meine ersten Beziehungen prägten und ruinierten mich gleichzeitig. Anfangs schwebte ich stets auf Wolke Sieben, bis unerreichbare Ansprüche an mich gestellt wurden. Ich sollte mir beispielsweise einen Job suchen und ständig ihre Eltern besuchen. Kaffee und Kuchen und am Wochenende Zeitungen austragen. Mein Selbstwertgefühl wurde mit Füßen getreten, bis ich nur noch funktionierte. Meine Perlen wurden dagegen betüdelt wie Prinzessinnen. Dieser ganze Druck ließ mich von Anfang an scheitern. Ich suchte Ablenkung in Computerspielen, Filmen und im Internet. All diese Eindrücke verdarben meine Seele, ließen mich abstumpfen. Rotten.com und grenzwertige Pornos machten eine trostlose Gestalt aus mir. So fand ich mich kuchenkauend bei irgendwelchen Pseudo-Schwiegereltern wieder und fragte mich, ob die überhaupt ahnten, was eine »Milf« sein könnte.

Was folgte, lag nicht mehr in meiner Hand. Mit dem Alter nahm der Frust zu, da ich mich mehr und mehr mit dem Tagesgeschehen beschäftige. Keine Tagesschau mehr ohne anschließenden Wut- und Tobanfall. »Redet nur, ihr Spacken. Ihr habt gut quatschen, ihr da oben!« brüllte ich dem Fernseher entgegen – lange bevor Hatespeech erfunden wurde. Die Politiker waren schuld an nahezu allem. Meinen schlechten Job, mein leeres Konto und die Unmöglichkeit einer Rente. Ich fühlte mich in Stich gelassen. Vermeintlich gute Laune, die wahrscheinlich nur durch eine Anzahl der Biere stieg, wurde von den Meinungsmachern, sprich den Medien, konsequent im Keim erstickt. Mir wurde keine Chance gewährt auf wahres Glück, auf Zufriedenheit. Mensch, ich vermisste die guten Hits der ZDF-Hitparade.

Was bleibt, ist Selbstmitleid

Nun liege ich hier, verbittert. Mein Vater sprach mir bereits vorwurfsvoll auf den AB, mindestens vier Mal. Eigentlich müsste ich aufstehen und mich um meine Hygiene kümmern, da selbst mir schlecht von meinem Gestank wird. Doch wie soll ich das anstellen? Schließlich hatte ich gestern so einen schlechten Tag. Mein Zug fiel aus, es sieht nach Regen aus und ich wurde für 30 Tage bei Facebook gesperrt, weil ich einen provokanten Tweet retweetet habe. Dabei wollte ich nur meiner Ex was auswischen. Und einer muss ja mal die Wahrheit sagen! Wie es hier aussieht und überhaupt. Stellt mich ruhig in eine Ecke, denn da gehörte ich ja für euch schon lange hin. Was kann ich schon dafür, so war es schon immer. Übernehmt doch mal Verantwortung für das, was ihr angerichtet habt. Morgen gehe ich erst einmal zum Arzt und lasse mich erneut krank schreiben.


Letzte Bearbeitung war am 27.03.2018

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