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Warum ich mich bei Tinder löschte

Beitragsbild: Warum ich mich bei Tinder löschte

Ausgewischt! 200 Matches und eine Handvoll Dates später kann ich endlich Revue passieren lassen, warum ich mich letztendlich bei Tinder löschte.

Das Ende war recht unspektakulär. Zuerst löschte ich meine Daten, meine Fotos und trennte anschließend die Verbindung zu Facebook. Ab diesem Zeitpunkt war ich sozusagen frei von Tinder, der berüchtigten Dating-App.  Ohne Ring oder gar Geschlechtskrankheit, wohlgemerkt. Die Popularität dieses Phänomens scheint ungebrochen; meine bisher erschienenen Artikel zum Thema Tinder werden weiterhin häufig gelesen und zuletzt kündigte das Unternehmen brandneue Funktionen an – Karriere und Bildungsgrad sollen beim Matchen helfen. Darüber hinaus wurde der CEO des Unternehmens zur Zielscheibe, weil er sich unglücklich (»Der Feminismus ist schuld«) in einem Interview äußerte. Der Rummel scheint demzufolge noch nicht vorbei. Ich für meinen Teil habe das Gewische satt.

Sechs Monate Tinder später

Sechs Monate. Als ich mich damals bei Tinder anmeldete, nahm ich mir vor, nicht allzu lange zu bleiben. Nach einem halben Jahr wollte ich sämtliche Höhen und Tiefen kennengelernt haben. Entweder endet dieses Abenteuer in einem Fiasko voller ernüchterner Erfahrungen oder gar in einer glücklichen Partnerschaft. Beides sollte mir recht sein, da ich eh nichts Besseres vorhatte. Ich sammelte in der Zeit um die 200 Matches, aber entschied mich jedoch nur zu wenigen Treffen, da ich Dating per se nicht ausstehen kann.

Was ich vorab sagen kann: Tinder ruiniert Singles. Unser Alltag lehrt uns ja zu Genüge, dass mehr Wert auf Schein denn Sein gelegt wird. Aber was da nun abgeht, kann ich nicht mehr nachvollziehen. Darüber hinaus kann ich ein Klischee bestätigen: Wenn man einer Frau sagt, dass man etwas Festes sucht, steigert das die Chancen auf einen ONS.

Igitt, Romantik!

Szenenwechsel. Du fährst täglich mit der U-Bahn zur Arbeit und triffst jeden Morgen nahezu die gleichen Leute. Schon seit längerem fällt Dir diese zauberhafte Brünette auf, die sich ab und zu an ihrem dampfend heißen Kaffeebecher klammert. Die U-Bahn kommt an diesem Morgen später und ihr kommt beim öffentlichen Gefluche und Geseufze ins Gespräch. Ihr grüßt euch ab jenen Tag und tauscht sogar immer mehr Wörter aus, sofern ihr die gleiche Bahn erwischt. Sie mag – neben Kaffee in rauen Mengen – Bücher und Kerle mit Bart. Zwei Wochen später hast Du ihre Nummer. Und jeder Morgen war wunderbar, da dieser gewisse Zauber in der Luft lag, den Tinder immerzu abtötet. Den Moment der Überraschung oder gar – und nun stark sein – Romantik.

Erneuter Szenenwechsel. Du wartest am Bahnhof und schaust nervös auf die Uhr. Plötzlich steht sie vor Dir und schaut Dich abschätzend an. Sie setzt ein schwer zu deutendes Lächeln auf und umarmt Dich – dabei kennt ihr euch gerade mal zwei Sekunden lang. Tinder hat euch zu vertrauten Personen gemacht, obwohl Du gerade mal ihren Vornamen und die Farbe ihres Bikinis kennst. Wenige Minuten später sitzt ihr euch in einer ansässigen Lokalität gegenüber und redet über die Anfahrt, das Wetter, die Arbeit und trinkt mehr, als euch gut tut. Sie fragt Dich nach Deinen Plänen, Deinen Ex-Freundinnen und nach Deiner Mutter. Du hingegen fragst, ob Sie noch was trinken will. Natürlich sucht ihr was »Festes«, doch landet dennoch im Bett. Schreibt euch auf dem Heimweg, wie schön der Abend war und hört dann nie wieder was voneinander. Zwei Wochen später löscht Du ihre Nummer.

Die Geister, die ich wischte

Meiner Meinung bringen gemeinsame Erfahrungen Menschen zusammen. Bei einem Tinder Match gibt es jedoch keine Basis für solche Momente, sondern die Nutzer sind in jeglicher Hinsicht auf- und abgeklärt. Sie wissen meist einen größeren Anteil über die Person, die sie eventuell offline kennenlernen wollen und erkundigen sich dann beim Rendezvous über den Rest. Ein Date via Tinder hat somit die Funktion, eine Person für sich selbst zu finden, die möglichst perfekt zu den eigenen Bedürfnissen passt. Wie diese aussehen, hängt von der jeweiligen Lebenssituation oder dem Lifestyle ab. Jedoch leuchtet es ja ein, dass die Erfolgschancen recht gering sind. Es sei denn, man reduziert die Bedürfnisse auf Bestätigung und Begehren.

Ich gebe unverfroren zu, dass mir jedes Match schmeichelte. Mein Selbstbewusstsein wuchs mit jeder Nachricht und ich war vom Echo überwältigt. Offline hätte ich nie so viel Zuspruch erwartet. Man stellt sich ja selten in einen öffentlichen Raum und outet sich als Single oder gar auf der Suche. Wie gesagt, ließ ich mich nur auf wenige Treffen ein, da ich meist bei der Kontaktaufnahme merkte, ob wir auf einer Wellenlänge schweben. Alle meine Dates verliefen meiner Einschätzung nach positiv, auch wenn sich keine Partnerschaft entwickelte. Ich suchte etwas Festes, was auch meine Matches über ihre Absichten behaupteten. Im Nachhinein kann ich sagen, dass dies teilweise großartig geschwindelt war.

Mich störte das Ausfragen, das zermürbende Abgleichen von Zahlen, Träumen und Erfahrungen. Als ob das Gestern eine wichtigere Rollen spielen würde als der Moment, der gerade stattfindet – oder gar die eventuelle gemeinsame Zukunft. Sie wollten keine Risiken eingehen, sondern unkomplizierte, passgerechte Liebschaften. Solche, die man jederzeit entsorgen kann, sobald Probleme auftauchen. Genau so schnell wegwischen, wie man es sich hergewischt hat. Bloß keine Zeit verlieren und nebenbei das eigene Ego füttern.

Keine Zeit für das Hier und Jetzt

Was Tinder fehlt, ist Zeit. Die kommenden Features, sprich die Angabe von Karriere und Bildung, verschlimmern das Dilemma nur. Auch wenn es mir einleuchtet, dass die beiden Faktoren bei dem Entstehen einer Partnerschaft entscheidend sein können, killt es die bereits angesprochenen gewissen Momente des Herantastens.

Die App ist darauf ausgelegt, mal nebenbei – sei es im Zug, in der Mittagspause oder auf dem Klo – ein Match zu finden. Dabei spielt es ja keine Rolle, ob es um schnellen Sex oder eine Partnerschaft geht. Was jedoch nur nebenbei abgehandelt wird, kann meiner Meinung nach keine zentrale Position im Leben einnehmen. Wo sind diese Momente? Das Anlächeln, der erste Kontakt. Die dazugehörigen Fragen, die sich stellen? Wer ist sie? Ist sie Single? Ob sie mich auch mag? All das beantwortet Tinder direkt und ohne jeglichen Charme. Im Idealfall sitzen sich zwei Menschen gegenüber, die ihre Profile gegenseitig interessant fanden. Während sie auf dem Klo hockten oder besoffen im Kreise ihrer Freunden Tinder durchstöbern. Ist das der Stoff, aus den Beziehungen gemacht sind? Ich bezweifel es stark.

Es fehlt mir nicht. Weder die Bestätigung noch die Nebenbeschäftigung. Stattdessen schaue ich nur noch beschämt, wenn jemand in meiner Gegenwart die App erwähnt. Es ist, als ob ich nie dort gewesen wäre und auch nie an diesem Zirkus teilgenommen hätte. Es wurde klar: Diese App bietet Dir nur die Fast-Food-Variante Deiner letzten ernsthaften Beziehung.


Photo: totally screwed by frankieleon, CC 2.0


Letzte Bearbeitung war am 11.07.2017

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