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Wie Tinder mein Leben ruinierte

Wie Tinder mein Leben ruinierte

Wisch, wisch, Sex? Ist es tatsächlich so einfach, wie alle sagen? Tinder, die Dating-App, ist der Geheimtipp unter Singles und gelangweilten Ehemännern. Zeit, sich den Beischlafhelfer Nr. 1 genauer anzusehen.

Letztens wurde ich während einer nervigen Fummelei an meinem Smartphone angesprochen, ob ich „bei Tinder wäre“. Tatsache, mein Rumgewische mit den Fingern auf dem Display erinnert an das berühmt-berüchtigte Phänomen, von dem alle reden: Tinder, die Dating-App. Es gibt haufenweise Beiträge über die Funktionen und Möglichkeiten dieses Beischlaf-Assistenten für die Hosentasche. Die RP liefert eine Bilderspur namens „So funktioniert die Dating-App“, Brigitte bietet gar ein Tinder-Tagebuch während die Münchner Abendzeitung es mit „100 Männer in acht Monaten“ auf den Punkt bringt. Zuvor las ich schon hier und da über die verhängnisvollen Eskapaden, die dank Tinder weltweit entstanden. Sittenwidrig! Wo bleibt die Moral? Was sollen die Nachbarn denken? Da sprach ja man jedoch noch über eine reine Applikation für schnellen und unkomplizierten Sex. Hierzulande hält man den Ball flach und sagt lieber Dating. Erinnert ein wenig an „DVD-Abend mit Frühstück“, bei dem auch jeder weiß, was wirklich gemeint ist.

Idiotensicheres Wischen

Zur Funktionsweise kann man sagen, dass es nahezu idiotensicher funktioniert. Man meldet sich via Facebook-Account an, damit man auch seine tatsächliche Visage zur Verfügung stellt und nicht irgendwelche Ergebnisse der Google-Bildersuche. Ein paar grundlegende Einstellungen (wie Namensvergabe, Fetische) weiter, kann das wilde Abchecken schon losgehen. Der Lüsterne bekommt Profile möglicher Partner und Partnerinnen präsentiert, die man schnell mittels Wisch ein- oder aussortieren kann. Wisch nach links bedeutet „Nein, danke“ (Die Amerikaner sagen in dem Fall „Neeeeeeext“), während ein Wisch nach rechts signalisiert: Ich will Dich.
Laut Erfahrungsberichten aus dem Umfeld vernahm ich, dass sich dort haufenweise Männer tummeln, die eigentlich nur in eine Richtung wischen. Nach dem Motto: Irgendwann muss doch eine wollen!

Im Falle eines positiven Ausgangs entsteht übrigens ein „Match“. Das bedeutet, dass beide sich laut eines gekonnten Wisches füreinander interessieren und fortan die Möglichkeit haben, sich via Chatmail auszutauschen. Im Idealfall würde das an einem lauen Samstagabend bedeuten: Tinder an, einige Male rumwischen, die Mathelehrerin ignorieren, Match erhalten, Treffpunkt ausmachen, DVD-Abend. Ist das die Zukunft der Singles? Nie wieder Einkaufswagen gegeneinander krachen lassen. Nie wieder Drinks spendieren und zu „Atemlos“ tanzen. Einfach nur wischen, wischen, wischen?

Ängste beim Wischen

Nun ist es so, dass ich ein wenig neugierig geworden bin, wie diese App wohl abläuft. Bisher hielten mich immer begründbare Ängste davon ab. Ich möchte die Gründe kurz nennen:

  • Was ist, wenn meine Nachbarin/Mathelehrerin/Ex/Mutter dort angezeigt wird?
  • Kann man innerhalb meiner Facebook-Chronik lesen, dass ich via Tinder Beischlaf suchte?
  • Was ist, wenn ich mich verwische? Manche haben ja eine Links-Rechts-Schwäche?
  • Ist die Auswahl in einer Kleinstadt/einem Dorf nicht so beschränkt, dass schnell ein Teufelskreis entsteht?
  • Was ist, wenn man mich erkennt? „Guck mal, der will mich! Der wischte mich! Voll peinlich!“

Wie Goethe schon sagte: Wer nicht neugierig ist, erfährt nichts. In diesem Sinne wagte ich einen Selbstversuch und bereitete meinen Einstieg in die Welt von Tinder vor, indem ich die App runterlud. Hier schrittweise eine Art Dokumentation.

Tinder: Schritt für Schritt

1. Ich soll mich über Facebook anmelden. In mir steigt eine Art Panik auf. Ein Hinweis in meinem Profil wäre mir doch etwas peinlich, schließlich genießt die Dating-App einen gewissen Ruf. Nicht das „… gerade scharf wie Nachbars Lumpi …“ oder so da steht!

2. Tinder erhält Zugriff auf folgende Infos: öffentliches Profil, Freundesliste, E-Mail Adresse, sexuelle Ausrichtung, Geburtstag, Statusmeldung, Ausbildung, Interessen, aktueller Wohnort, Fotos, persönliche Beschreibung und „Gefällt mir“ Angaben. Also schlicht und einfach: ALLES. Ich klicke „OK“, weil nun eh alles zu spät ist.

3. Es folgt die Aufforderung, meine Standortsbestimmung einzuschalten. Ich höre schon meine Nachbarin laut auflachen.

4. Ein seltsamer Startbildschirm tut sich auf, auf dem ein übergroßes „Was es Neues gibt“ vermerkt ist. Direkt unter diesem Schriftzug gibt es einen Button, auf dem „Alles klar. Lasst mich“ geschrieben steht. Scheint wohl für Eilige und Ungeduldige zu sein. Da ich keine andere Wahl habe, betätige ich diesen.

5. Ich bin direkt mitten im Geschehen und im ersten Profil. Eine 27jährige Dame wird mir vorgeschlagen, die sich selbst im Badezimmer abgelichtet hat. Schöne Kacheln! Doch leider kann ich mich nicht wirklich auf sie konzentrieren, da mir die Navigation der App noch recht schleierhaft erscheint. Wo ist das Menü? Gibt es Einstellungen? Was passiert, wenn ich hier … OH NEIN ICH HABE GEWISCHT!

6. Die App überfordert mich innerhalb weniger Sekunden. Hilfe, ich bin einer dieser „Ich wische alles, was nicht bei drei auf dem Baum ist“ Männer! Unfreiwillig! Endlich entdecke ich das Menü. Es ist am linken Rand versteckt und bietet „Entdeckungs-Präferenzen“ (erinnert mich irgendwie an eine Safari) und „App-Einstellungen“. Ich wähle die Einstellungen, um das Schlimmste zu verhindern.

7. Dort kann ich den Benachrichtigungsmodus einstellen. Falls ich die Liebe/den Beischlaf meines Leben entdecke, wird mich mein Smartphone umgehend informieren – egal, wo ich stecke. Außerdem kann ich Kontakt zu Tinder aufnehmen. Lustigerweise heißt die Funktion „Brauchst Du Hilfe?“ … Die wissen schon, wie sehr man mit Tinder verzweifeln kann.

8. Ich werfe einen Blick auf die „Entdeckungs-Präferenzen“. Dort kann ich z.B. meinen Suchumkreis auswählen. Tinder war so nett und wählte direkt einen Umkreis von 80km. Ist das die gängige Maximalentfernung laut Studienergebnissen? Alles was darüber liegt, ist sowieso für die Katz? Mich würden solche Statistiken brennend interessieren. Des weiteren kann ich die Altersgruppe einstellen. Tinder schlägt hier 26-46 vor. Ich mit meinen dato 36 Lebensjahren habe also eine „Range“ von einer Dekade. Gut zu wissen!

9. Ich habe noch keinerlei Matches. Frechheit!

10. Mehr kann auch nicht einstellen. Ich gehe zurück zum Wischmodus und wische weiter. Wieder eine Dame mit seltsamen Vornamen, aber mit einem wunderschönen Postkartenmotiv. Sie muss es im Urlaub aufgenommen haben, was deutlich sympathischer wirkt als die vorherigen Kacheln, die ich als „JA, WILL ICH!“ fälschlich wischte. Dieses Mal versuche ich mal die andere Richtung und warte, was passiert.

11. Tinder fragt mich, ob ich WIRKLICH kein Interesse hätte. Ich fühle mich gerade ein wenig wie bei einem TV-Format mit Kai Pflaume, der mich zu einer Hochzeit mit einer nahezu Unbekannten überreden möchte. Nach meiner Bestätigung kommt die dritte Frau ins Spiel, die einen ähnlich unrealistischen Vornamen trägt. 27 Jahre, dunkle lange Locken, ein hinreissendes Lächeln und eine vollgesiffte U-Bahn-Station im Hintergrund. Ich wische nach rechts, denn ich bin auch Bahnfahrer. Dieses Mal fragt mich Tinder nicht, ob ich es ernst meine.

12. Wie schnell das geht. In Sekundenschnelle werden mir Gesichter untergejubelt und wie im wahren Leben (oder auf der Einkaufsstraße, im Club, in der Bar) entscheide ich schnell, ob ich überhaupt Interesse habe, mich näher mit der Person zu beschäftigen. Die vierte Dame erinnert mich ein wenig an meine Ex. Zum Glück hat sie einen anderen Namen.

13. Ich entdecke eine Funktion, die mir vorab nicht klar wurde: Es befindet sich ein kleines „i“ unterhalb des Bildes. Bei Druck verrät der Button, wie weit das mögliche „Match“ entfernt wohnt, wann sie/er online war … und es gibt weitere Bilder. Also noch mehr Kritieren zum Abwägen! Vielleicht hätte es ja ein Foto auch ohne Kacheln gegeben, wer weiß?

14. So langsam vergeht mir die Lust. Natürlich könnte ich mich nun ewig durch unzählige Profile klicken, doch das könnte ich auch bei Facebook oder sonstigen Online-Plattformen. Oder ich stelle mich in die Ecke eines Schuppens, wo getanzt wird und warte, bis mich eine Betrunkene bemerkt. Irgendwie läuft das auf was Ähnliches hinaus. Ich wische noch ein paar Mal hin und her und lache etwas über Vornamen wie „Püppy“.

Wisch und weg

Natürlich hat Tinder mir noch nicht mein Leben ruiniert. Dafür war die Dauer der Nutzung zu kurz. Andererseits habe ich mich noch nicht bei Facebook eingeloggt, um zu überprüfen, ob meine Daten schon angeglichen wurden. Es wird wohl einige Daumenbrüche geben, bis ich die Nachteile meiner schnellen Entscheidungen auch weitergehend zu spüren bekomme.

Meine Mathelehrerin habe ich auf die Schnelle nicht entdecken können. Mag aber auch daran liegen, dass meine „Range“ nicht zu ihrem Vorteil eingestellt war. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Tinder noch einmal anwerfen werde. Meine zuvor aufgezählten Sorgen und Ängste sind noch da und auf lange Sicht hin muss ja was Dämliches passieren. So will es Murphys Gesetz.

Bleibt nur noch darüber zu sinnieren, ob diese Art der Dating-Apps den Untergang des lockeren Kennenlernens darstellt. Statt dem Flirt über Blickkontakt gibt es nun den Wisch dank des Daumens. Kein Erfolgserlebnis mehr, weil das Lächeln erwidert wird. Dafür aber eine Kurzmitteilung auf dem Handy, dass man ein „Match“ hat. Eine gut gelungene Gestaltung eines Facebook-Profils vermag die Libido des Gegenübers zu steigern. Was nun besser ist und auf Dauer funktioniert, wird sich zeigen. Am Ende geht es schließlich eh nur um das Eine.


photo: „i saw you on tinder“ by denis bocquet


Letzte Bearbeitung war am 21.08.2017